Kommentar |
Das Seminar beschäftigt sich vor dem Hintergrund neuerer Forschungen zum langen 19. Jahrhundert und der Diskussion um einen social-political turn in der Literaturwissenschaft mit der Darstellung sozialer Verhältnisse in literarischen Texten vom ausgehenden 18. bis zum frühen 20 Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei die Frage, inwiefern sich Armut seit der Spätaufklärung und entgegen Tendenzen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, Egalität zu propagieren und zugleich neue hegemoniale Sozialstrukturen zu verfestigen, als literarisches Thema behaupten kann. Welche literarischen Strategien werden aufgeboten, um soziale Prekarität, lange bevor dieser Begriff Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden hat, darzustellen? Und im Kontext welcher anderer Themen, etwa misslungener individueller Aufstiegsbestrebungen oder allgemeineren Formen der Fürsorge oder auch der Regierbarkeit der Armen, findet die literarische Bearbeitung des Motivs der Armut statt? Besondere Beachtung soll bei der Beantwortung dieser Fragen auch das Verhältnis von humanistischen Bildungsidealen und (anthropologischer) Armut in der frühen Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts finden.
Voraussichtlich wird sich in etwa folgendes Seminarprogramm ergeben: Ausgehend von Auszügen aus Rousseaus Erziehungsroman L’Emile und beginnend mit Karl Philipp Moritz‘ (Anti-)Bildungsroman Anton Reiser und dem Dramenfragment Die Kleinen von Jakob Michael Reinhold Lenz werden wir untersuchen, welche Bildungsoptionen uns angesichts einer Armut in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht in der Literatur um 1800 begegnen. Anhand von Bettine von Arnims Sammlungen und Texten zum Thema Armut und Georg Büchners Flugschrift Der hessische Landbote sowie seinem Drama Woyzeck wird das für den Vormärz typische Verhältnis von Ästhetik und Politik mit Bezug auf das Thema Armut herausgearbeitet, bevor wir uns Darstellungen von Armut im poetischen Realismus zuwenden und zuletzt mit Robert Walsers Jakob von Gunten einen Text des frühen 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen. |