Kommentar |
Das 18. Jahrhundert entwickelt neue Verfahren, um das ‚eigene Leben‘ zu erzählen. Jean-Jacques Rousseaus „Bekenntnisse” sind dabei wegbereitend: Eine radikale Tendenz zur Selbstenthüllung und -beurteilung verbindet sich mit dem Anspruch, das ‚gesamte Leben‘ darzustellen. Goethes „Dichtung und Wahrheit” (1811-1814) schreibt diese Tendenz fort, hier wie etwa auch bereits in Ulrich Bräkers „Lebensgeschichte und Natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg” (1788/89) erlangen die Herkunft, die Phase der Kindheit und ausgehend hiervon Fragen der Selbst-Bildung eine zunehmend größere Bedeutung. Jean Pauls „Selberlebensbeschreibung” (1818) kann dabei als parodistischer Kommentar zum autobiografischen Erzählen im 18. Jahrhunderts verstanden werden. Ausgehend von der Lektüre dieser (kanonisierten) ‚Autobiographien‘ fragt das Seminar nach dem Verhältnis von Leben und Schreiben. Ein erster Schwerpunkt wird dabei auf den Metamorphosen von genieästhetischen und bürgerlichen Selbst-Bildungsprojekten innerhalb romantischer Lebens- und Schreibformen um 1800 liegen, wobei den literarischen Selbstverortungen romantischer Autorinnen (u.a. Caroline Schlegel, Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim) besondere Aufmerksamkeit zukommen wird. Gefragt wird danach, inwiefern deren Biografien nach ganz eigenen Erzählmustern verlangen und ob und inwiefern diese gegenüber männlich codierten Projekten der Selbstlebensbeschreibung ein gewisses Irritationspotential aufbieten können. Ein zweiter Schwerpunkt liegt sodann auf Selbstlebensbeschreibungen ‚um 2000‘: Wie lässt sich das eigene Leben, insbesondere dasjenige als Künstler*in oder auch als Wissenschaftler*in im 21. Jahrhundert literarisch darstellen? Welche Erzählverfahren erscheinen dafür ‚heute‘ zeitgemäß? Welche erzählerischen Innovationen und Erkenntnisse auf Seiten der Lesenden verbinden sich damit? Wir werden diese Fragen zunächst anhand von Grete Weils Roman „Meine Schwester Antigone” (1980) erörtern und voraussichtlich zudem Chris Kraus‘ „I love Dick” (1997), Didier Eribons „Rückkehr nach Reims” (2009) und Thomas Melles „Die Welt im Rücken” (2016) (in Auszügen) lesen und – hinsichtlich Erzählverfahren und Genremischungen sowie mit Blick auf Gender-Codierungen und die Rolle von Sozialverhältnissen – diskutieren. |